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Stuttgarter Zeitung 23. November 2004

MenschGruß– ein Kartograf aus Kemnat hat alle Städte und Gemeinden des Landes bereist

Von Michael Ohnewald, Stuttgarter Zeitung 23. November 2004

In diesen Tagen ist er fertig geworden mit der heimatkundlichen Inventur. 25 Jahre hat Jürgen Gruß für seine Reise durch die 1111 baden-württembergischen Städte und Gemeinden gebraucht. Es ist ein langer Weg gewesen. Ein Weg durch das Land - und zu sich selbst.

Herr Gruß lebt in einem Museum. Dort sitzt er auf seinem Sofa und erzählt. Das Gespräch mit Ihm ist einfach. Man muss Herrn Gruß nur ein Stichwort hinhalten wie ein Streichholz und schon ist er Feuer und Flamme. Dann redet er In einem fort über sein Privatmuseum, das aus drei Zimmern besteht, In denen es hunderte von Ordnern gibt. Alles hat seinen festen Platz an diesem Ort. Mit Ausnahme von Herrn Gruß, der seinen Platz sucht im Leben und Halt im Ordnungswahn.

Es ist ein seltsamer Hort der Muse, an dem alles vertraut scheint und zugleich fremd. Das Große liegt hier im Banalen und das Banale im Großen. Man geht an Regalen vorbei, wie man sie von der eignen Wohnung kennt. Auf Ihnen stehen Telefonbücher, Tassen vom Weihnachtsmarkt und Zinnbecher. Aber diese Regale sind nur scheinbar ganz normale Regale. An Ihnen kleben gedruckte Erklärungen wie "Telefonbücher", "Tassen vom Weihnachtsmarkt" und "Zinnbecher". Auch die Schublade mit den Mülltüten ist beschriftet und selbst im Kleiderschrank haftet unter dicken Pullovern ein Bäbber: ,,Fruit of the loom." So was gibt es nicht in gewöhnlichen Wohnungen. Nur im Museum.

An diesem Abend trägt der 46-jährige Museumsleiter einen gelben Pulli. Es ist Tagesschauzeit und über den Dächern seines Heimatorts, der im Dunstkreis des Flughafens liegt, sabotiert eine Düsenmaschine den heiligen Bimbam der nahen Kirche, welche die Christenmenschen zu Kemnat an die Ordnung erinnert, die allem übergeordnet ist. Jürgen Gruß pflegt nicht zu fliegen. Er fährt. 132 000 Kilometer hat er auf seinen Reisen quer durch Baden-Württemberg heruntergespult. In 25 Jahren kommt einiges zusammen.

Reise durch die Kreise als tiefer Brunnen der Selbsterfahrung.
Bei seinen ersten Tagestouren hat er sich noch in die S-Bahn gesetzt. Aber der Radius sollte größer werden. In den Achtzigern hat er dann das Auto genommen und jedes Jahr seinen Urlaub in einem anderen Landkreis verbracht. Mehr als 9000 Stunden haben seine aufwändigen Erkundungen zwischen Vorderwestermurr und Hinterzarten gedauert, das alles kostete rund 30.000 Euro. Da kann man viel erzählen. Gruß tut das am liebsten auf seinem beigen Sofa mit verschränkten Händen vor einem genährten Bauch, in der Art, wie man das bei Joschka Fischer neuerdings wieder öfter sieht.
Angefangen hat alles mit einem Spaziergang im Glemstal unweit von Ditzingen. Das war 1978. Die Wanderung mit dem Albverein hat Jürgen Gruß so gut gefallen, dass er später aufs Rathaus gegangen ist. "Ich wollte mehr über dieses Gebiet erfahren", sagt er. Der Tourist bekam einen Ortsprospekt und einen Bildband. Alles gratis. Wenig später ist er dann ins benachbarte Korntal gefahren. "Was hen se von de andere kriagt", ist er gefragt worden. Und am Ende hatte er wieder reichlich Lesestoff im Gepäck. Mit der Zeit hat Gruß diese Reisen als einen tiefen Brunnen der Selbsterfahrung betrachtet, der sein ganzes Leben bewässert. Da ist der Vorsatz gereift, alle 35 Landkreise und neun kreisfreie Städte in Baden-Württemberg persönlich zu besuchen. Kein Dorf wollte er auslassen, gleich wie lange es auch dauern möchte. Manchmal tun Menschen seltsame Dinge, um unsterblich zu werden. Jürgen Gruß sammelt halt Gemeindestempel. Es ist in seinem ganz speziellen Fall auch eine Suche nach persönlicher Entfaltung jenseits der Grenzen, die einem in dieser Gesellschaft gezogen sind. Und bei Jürgen Gruß waren die Grenzen von Haus aus besonders eng.

In Karlsruhe hat er Kartografie studiert und sich vorgestellt, dass er seinen Lebensunterhalt in diesem Metier verdienen würde. Mit dem Diplom in der Tasche hat er 70 Bewerbungen geschrieben und ebenso viele Absagen bekommen. Irgendwann ist er beim Antennenfabrikanten Hirschmann In der Auftragsannahme gestrandet. Das war vor über zwanzig Jahren. Die dominante Mutter hat den einzigen Sohn allein erzogen, ihn umhaust. Es hat ihn gestört, aber er fand im Hotel Mama nicht die Kraft zum Auschecken. ",Die Reiserei war eine Flucht", sagt er im Rückblick und erinnert dabei ein wenig an Ödipus, der vor seinem Orakel wegrannte. Auf seine Weise hat sich Gruß gelöst aus der Umklammerung. Den Urlaub hat er zwar mit der Mutter geteilt, aber wenigstens Ferienwohnungen in verschiedenen Landkreisen gewählt. Dort hat er morgens zwei Rathäuser besucht und nachmittags noch einmal zwei. "Am Abend wieder in die Ferienwohnung zurückgekehrt, sollte ich mich auf Wunsch zum gemeinsamen Fernsehen mit der Mutter einfinden, aber das ging mir derart auf den Geist, dass ich mich gerne mit dem Papierkram der Reisen beschäftigt habe", sagt er. "So ist mein Faible für Archivierung und Dokumentation entstanden".
Die Mutter ist inzwischen vier Jahre tot, und der Sohn hat Abstand gewonnen. Geblieben ist sein Tick, alles um sich herum zu katalogisieren. "Wenn nur alle wollten, würde sich alles auf Erden sofort anders ordnen" hat Dostojewski mal geschrieben. Der Satz stammt aus einer Erzählung, die damit beginnt, dass sich der Protagonist eine Kugel in den Kopf jagen will. Man kann das Leben auch anders in Ordnung bringen. So wie Gruß.

Das Sortieren und Verzeichnen hat im Übrigen auch sein Gutes. Anders wäre es nicht möglich gewesen, die Reise durch mehr als tausend Städte und Gemeinden zu systematisieren und zu bewerten, wie es der Mann aus Kemnat getan hat. Die beste Note hat am Ende der Rhein-Neckar-Kreis bekommen, gefolgt vom Ortenaukreis. Schlusslichter sind die Kreise Schwäbisch Hall, Emmendingen und Heidenheim. Wobei anzumerken ist, dass auch die Bewertungskriterien ihre ganz eigene Note haben. lm Stile des Buchhalters hat Gruß niedergeschrieben, ob er den Bürgermeister persönlich angetroffen hat, ob die Gespräche auf dem Rathaus angenehm waren, ob es einen Imbiss gegeben hat und Ortschroniken, von denen er inzwischen mehr als tausend besitzt, und ob man ihm einen Gemeindestempel in sein dickes Buch gedrückt hat. Aus alledem ist ein 260 Seiten starkes und mit ausschweifender Gründlichkeit verfaßtes Buch entstanden, das er erst vor wenigen Tagen aus der Druckerei geholt hat. Erschienen ist es im Selbstverlag.
Jürgen Gruß sitzt mit seiner Bulle-von-Tölz-Silhouette auf dem Sofa und, zwängt dem Gespräch sein raumfüllendes Lachen auf, das ansteckend wirkt. Er weiß, dass sein Leben komische Züge hat. Aber er hat nun mal kein anderes. Also gibt er den Kauz, der sich selbst nicht allzu wichtig nimmt und verrät seine kleinen lustigen Geheimnisse. Im Schnitt hat er auf seiner ruhelosen Reise in jeder Amtsstube 75 Minuten zugebracht, wobei sich bei mehr als der Hälfte seiner Besuche die Herren Bürgermeister höchst-selbst Zeit für den Landeskundler nahmen. Gerne erinnert er sich an den Schultes von Neulußheim im Rhein-Neckar-Kreis. Der hat ihn geschlagene siebeneinhalb Stunden durch die Gemeinde geführt, ihm das Turmuhrenmuseum gezeigt und sogar beim Italiener einen Tisch reserviert. Ein solcher Service trifft einen wie Gruß genau dort, wo die Rezeptoren der Eitelkeit sitzen.

Aber auch sein Waterloo hat Jürgen Gruß unterwegs erlebt. Der Ort unweit von Brüssel ist ein Sinnbild für eine vernichtende Niederlage, wie sie Napoleon 1815 hinnehmen musste. Das Waterloo von Jürgen Gruß liegt in Billigheim, das zum Neckar-Odenwald- Kreis gehört. Dort hat man ihm am wenigsten Zeit geschenkt. Ganze 180 Sekunden. Noch schlimmer war es in Giengen an der Brenz. "Ihr Besuch bringt uns nichts", hat man dem schwäbischen Pilger beschieden. Das tut weh. Die Uhrzeit nähert sich langsam den Tagesthemen. Jürgen Gruß aber wird nicht müde. Er erwärmt sich am Feuer der eigenen Begeisterung. Der Referent ist an jenem Punkt angekommen, an dem er stolz die Deckel seiner Schätze öffnet und die Perlen zeigt, welche er mitgebracht hat von seinen Exkursionen. Mehr als 600 Ordner stehen In seinem bewohnten Museum, durch das sich meterlange Regale ziehen. B wie Backnang. L wie Ludwigsburg, W wie Weikersheim. Stadtpläne, Radwege, lokale Geschichte, eigene Aufzeichnungen, Zeitungsartikel, Alles säuberlich abgeheftet, jederzeit griffbereit. Das hat er von jeder Gemeinde im Lande zu bieten. Und die passenden Anekdoten hat er auch. Je später der Abend, desto stärker ihr Kraftfeld.

In Fleischwangen gibt es Fleisch, in Lörrach eine Zeitungsanzeige.
Gruß erzählt von Fleischwangen im Kreis Ravensburg, wo ihn der Bürgermeister mit den Worten zum Essen begleitet hat "Wenn sie schon nach Fleischwangen kommen, sollten Sie auch Fleisch bekommen."
Dann ist da noch die Geschichte von Lörrach. Dort hatten die Stadtväter vergessen, die Karte zu beantworten, mit der er für gewöhnlich um einen Besuchstermin im Rathaus bittet. Als die Lörracher durch einen Zeitungsbericht von seinem Besuch im benachbarten Weil am Rhein erfahren hatten, quälte sie das Gewissen, und so schalteten sie in der Lokalzeitung eine kleine Anzeige: "Stadt Lörrach sucht Jürgen Gruß". Das wiederum entging nicht dem scharfen Auge eines Lesers, der seine Ferienwohnung in Todtmoos an Herrn Gruß vermietet hatte, welcher am Ende dann auch in Lörrach zu seinem Rathausbesuch kam.

Vom vielen Reden wird ihm der Mund trocken. Der Museumsleiter trinkt einen Schluck aus einer Sprudelflasche, die Herr Gruß nicht alssolche gekennzeichnet hat. Er ist jetzt bei seinen Nebenberufen angelangt. Seit zwanzig Jahren doziert er an der Volkshochschule, außerdem darf sich der Mann auch Gaukulturwart des schwäbischen Albvereins nennen. Da kommt man fast zwangsläufig zur Frage, was eigentlich Heimat ist. Eine eingezäunte Idylle? Ein politisch manipulierter Mythos? Ein verklärter Ort der Kindheit? Für Jürgen Gruß ist Heimat einfach nur, "der Raum, wo man nicht nach dem Weg fragen muss". Das muss er selten in Baden-Württemberg. Er kennt die Heimat. Er hat sie gezähmt.